Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei. So auch mein Erasmusjahr: 11 Monate und 11 Tage habe ich in Bordeaux gelebt und dabei vieles erlebt: französischen Wein getrunken, versucht Wellen zu reiten, die ‚Dune du Pilat‘ erklommen, am Strand Bachata getanzt, Schnecken degustiert, mein Herz verloren. Jetzt schaue ich zurück auf mein Leben wie Gott in Frankreich und überlege, was ich von diesem Jahr mitnehmen werde und wieso ich mich auf das kommende Semester freue.
Am besten hörst du dir «contrastes et couleurs» von Broussaï beim Lesen des Textes an, damit du in die richtige Stimmung versetzt wirst:
Partir, c’est toujours mourir un peu!
«Da steht ja ein Haus!», rufe ich entsetzt auf dem Weg nach Hause im Auto aus. «Da war doch vorher eine Wiese!» Nicht nur ich habe mich verändert, mein vorheriges Zuhause ist auch nicht mehr dasselbe. Ich rede auch ein wenig lauter als alle anderen Menschen um mich herum, aus Angst sie würden mein etwas verstaubtes Schweizerdeutsch nicht mehr verstehen. Im Supermarkt suche ich noch immer nach dem Herkunftsschild ‚France‘ und bin verwirrt, wenn da Schweiz oder gar Frankreich steht. Ich bin etwas verloren und muss mich erst einmal wiederfinden. Ein Teil von mir ist in Bordeaux geblieben.
Was habe ich gelernt?
Französisch, obwohl das sehr tagesformabhängig ist. Manchmal hört sich alles nur spanisch an.
Ich habe gelernt, das Essen zu schätzen. Man sitzt zusammen, degustiert, geniesst, diskutiert und beschreibt das Essen. Nimmt sich richtig viel Zeit. Bei mir in der Wohngemeinschaft hat ein Pärchen jeden Abend zusammen gekocht. Rezepte, die sie bereits am Tag vorher herausgesucht hatten. Wie man so schön sagt: Liebe geht durch den Magen.
Der Umgang mit Essen ist teilweise sehr speziell: Camembert und Baguette müssen vor dem Kauf einen Weichheits-, und Knusprigkeitstest bestehen. Ganz richtig, man muss Hand anlegen. Das bedeutet beim Camembert: Im Supermarkt wird der Deckel aufgemacht, dann mit dem Zeigefinger mittig etwas Druck auf den Käse ausgeübt; ist er schon reif genug oder etwa schon zu reif? Beim Camembert teilen sich die Geschmäcker: Soll man sich für einen reifen, schon etwas flüssigen Camembert entscheiden und nimmt den penetranten, nach einer Woche ungewaschenen Füssen riechenden Geruch in der ganzen Wohnung in Kauf? Chacun son goût. Bei mir steht der cremige Camembert im Kühlschrank, das weiss man bereits im Hauseingang. Meine alte WG in Basel wird sich zweifellos auf meine Rückkehr freuen!
In Frankreich ist nicht nur die Mode mit gestreiften T-Shirts und Béret zeitlos, sondern alles. Züge kommen und gehen nach Lust und Laune. Wein kann auch schon früh morgens getrunken werden, begleitet von einer Fischplatte und einer Zeitung im Grossformat. Das Leben ohne tickende Uhr ist ein gutes Leben. Man hat so viel Zeit, auch wenn man keine hat. Wenn ich schon vor Bordeaux oft zu spät kam, ist dies nun ein sicherer Wert bei mir, mindestens eine halbe Stunde. Ein wenig Müslüm ‚esprit‘: «Chumm las la bambele!» hat noch nie geschadet…
Eine spektakuläre Musikwelt, in die man eintaucht und nicht mehr auftauchen will. Von Nakamura, Maître Gims bis George Brassens und Charles Aznavour gibt es alles, wie zum Beispiel das Lied: ‚Je l’aime à mourir‘, ein grosser Klassiker von Francis Cabrel. Egal wie jung oder alt, alle Franzosen lieben die Musik von Francis Cabrel, dem französischen und vor Romantik triefenden Mani Matter. Allgemein gibt es kaum ein Lied, dass nicht jeder auswendig kennt und inbrünstig wiedergeben kann. Das Nonplusultra einer geglückten Integration ist, wenn man sich an einem Strassenfest beim automatischen Mitsingen von französischen Schlagerliedern wiederfindet. So weit bin ich noch nicht gekommen, ich stehe erst am Anfang einer langen Reise: Un kilomètre à pied, ça use, ça use!
Was nehme ich von der Université de Bordeaux mit?
Die Prüfungen im Medizinstudium in Bordeaux haben einen sehr klinischen Fokus: Man löst klinische Fälle von Anfang bis Ende. Zuerst liest man sich eine kurze Beschreibung des Patienten durch, danach werden sehr spezifische Fragen gestellt: «Welche Bildgebung würdest du jetzt durchführen?», anschliessend vielleicht: «Schickst du den Patienten mit Transport in das nächstgelegene Spital oder behältst du ihn noch ein wenig in der Praxis…?» Dies ist eine sehr spannende und ermutigende Art Prüfungen zu schreiben. Das klinische Denken wird auch schon in den Vorlesungen gefördert, indem man viele Fälle miteinander bespricht und verschiedene Möglichkeiten durchdenkt.
Das Schmuckstück der Université de Bordeaux aber sind die Praktika. Zu jedem Themenblock absolviert man ein damit verbundenes Praktikum. Jeden Morgen sieht man Patienten, die genau jene Probleme haben, welche anschliessend am Nachmittag in den Vorlesungen besprochen werden. So lernt man doppelt so schnell und ist dreifach motiviert. Diese enge Verzahnung von Theorie und Praxis habe ich sehr geschätzt.
Tout est bien qui finit bien
Acht Monate ist es her, dass ich zuletzt einen Fuss auf Schweizer Boden gesetzt, und elf Monate seit ich meine Familie sowie Freunde in der Schweiz nicht mehr regelmässig gesehen habe. Ich muss gestehen, das vergangene Jahr habe ich wohl nicht zur Verminderung des CO2-Ausstosses beigetragen, so viele meiner Freunde sind mich mit dem Flugzeug in Bordeaux besuchen gekommen. Falls ich etwas während meines Erasmusjahrs gelernt habe, dann ist es dies: Der Ort ist nicht so entscheidend. Die Menschen zählen.
Natürlich habe ich unglaubliche Personen in Bordeaux kennengelernt, weshalb ein Teil von mir auch da geblieben ist. Diese Menschen geben mir nun tausend Gründe, um jederzeit in den nächsten Zug Richtung Bordeaux zu steigen und meine schmerzliche Sehnsucht nach herzzerreissender Musik, knusprigem Baguette und einem Glas Wein beim zeitlosen Zusammensein zu stillen.
Ob ich mich als Person verändert habe, das kann ich nicht sagen. Meine Mutter findet, ich grinse seit Bordeaux so breit wie ein Honigkuchenpferd und zwar 24 Stunden am Tag. Auf jeden Fall bereue ich nichts. Weder meine kleinen, noch grossen Dummheiten und Abenteuer. Ich möchte keinen Moment in der aus Kalkstein gebauten, mit Cafés und Bars gefüllten, majestätischen Stadt missen. Das war das beste Jahr meines Lebens.
Nun warten neue Erfahrungen auf mich in Basel, die ich Schulter an Schulter mit meinen Freunden stemmen werde. Da kann man nicht anders, als sich darauf zu freuen!