«Lernt so viel ihr nur könnt, stellt Fragen. Aber vor allem seid nett zu allen. Immer. Zu allen. Zeigt Mitgefühl. Seid fleissig. [Pause] Viel Erfolg!» Die letzten Worte und Tipps für die noch fremde Arbeit im Spital sind gesprochen, ehrfürchtig stehen die Medizinstudierenden vor dem Professor. Die geweiteten Augen kleben an den Lippen des Referierenden. Vor Schrecken bleiben alle wie angewurzelt stehen. «Was habt ihr denn? Los geht’s!» Alltagskleider werden von weissen Kitteln überdeckt, das Stethoskop eingesteckt, Reflexhammer gezückt. Nochmals tief einatmen: Los geht’s!
In Frankreich beginnen die Medizinstudierenden bereits im vierten Jahr mit täglichen Praktika im Spital, den sogenannten ‚Stages‘. Von Montag bis Freitag verbringt man den ganzen Morgen auf der zugeteilten Station und betreut Patienten, alles unter den Adleraugen des Ärzteteams und des Professors. Hier ein paar Eindrücke von meinen ersten sieben Wochen:
Mein Montagmorgen
Der allererste Tag der Universität beginnt morgens mit dem ‚Stage‘. Ich bin auf der Neurologie eingeteilt für ‚motricités et épilepsie‘ und werde hier vor allem Patientinnen und Patienten mit Parkinson behandeln. Langsam folge ich den anderen Studierenden den Gang entlang Richtung Büro der ‚Internes & Externes‘ (Assistenzärzte und Studierende), während ich unauffällig in die Zimmer ,spähe an denen wir vorbei gehen. Ich sehe Menschen, die zittern, starren oder einfach nur leere Betten, höre Menschen, die stöhnen, husten, Kochtipps aus dem Fernseher, Gelächter, Stille. Wird der zitternde Kochenthusiast mein erster Patient sein?
Klopfen, warten, eintreten. «Guten Tag, Madame, ich bin Josefin Kaufmann, Medizinstudentin, und ich komme aus der Schweiz. Also haben Sie bitte ein wenig Geduld mit mir, falls ich sie nicht gleich verstehe oder ich Sie bitte, einen Satz zu wiederholen.» Normalerweise antworten die Leute nach diesem Satz mit: «Sie sprechen aber sehr gut französisch!» Den Franzosen ist in dieser Hinsicht aber nicht zu trauen, auch der liebenswürdigen alten Dame nicht, die vor mir auf ihrem weissen, unordentlichen Bett sitzt, aufrecht und breit grinsend. «Von wo aus der Schweiz?» Et voilà; der Erasmusbonus. Wie ich mit der Zeit lernen werde, ist es als Erasmusstudentin sehr einfach mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Man redet über die Schweiz, über die Familie und Freunde, die man vermisst, und schon haben die Menschen plötzlich sehr viel Geduld und Verständnis. An diesem Morgen jedoch galt nur glattes Überleben, mein Konzept: Kurze Sätze, breites Grinsen. «De Bâle!» Die Erklärung Dreiländereck muss warten.
Steter Tropf höhlt den Stein
Ich gebe es zu, während der ersten Woche war ich immer froh, als ich um ein Uhr meinen Kittel abziehen und verschwinden konnte. Es war einfach zu viel. Ich verstand gefühlt lediglich zwei Drittel davon, was die Patienten mir erzählten, und nur rund die Hälfte, was die Assistenzärzte mir auftrugen. Die Frage «Können Sie das nochmals wiederholen?» gehört inzwischen zur Top 3 der Hitliste meiner meist ausgesprochenen Sätze im Jahr 2018, dicht gefolgt von «Langsam bitte». Es war einfach zu schnell, zu viel. Mein Gehirn verstand nur Spanisch.
Aber jeden Tag lernt man etwas Neues, das Verständnis wächst und man traut sich immer mehr zu. Anfangs dritte Woche bekomme ich dann das erste Mal den Auftrag, einen Hausarzt anzurufen und die Krankenakte meines Patienten anzufordern. Ich lege mir die Sätze im Kopf zurecht, wie zum Beispiel: «Sprechen Sie bitte langsam, dann verstehe ich sie besser.» Nervös, zitternd tippe ich die Telefonnummer ein: Diese Nummer existiert nicht. «Du musst für externe Anrufe zuerst die 0 anwählen.» Achso. Dann halt noch einmal: Zittern, tippen. «Bonjour?», «Bonjour, (was wollte ich nochmals sagen?) JE SUIS ERASMUS!»
Ran an den Speck!
Das Tolle an der Neurologie ist, dass man klinisch sehr viel zu untersuchen hat. Man testet die Hirnnerven, den Gang, die Stabilität, die Aufmerksamkeit, die Kognition… Wenn man möchte, könnte man so einen ganzen Morgen nur mit einem Patienten verbringen. Das habe ich dann auch gemacht: Ein netter, kleiner Herr mit kugelrunden Augen.
«Sie leiden seit 15 Jahren unter Parkinson?», frage ich ihn, während ich gleichzeitig seinen Ellbogen auf die Beweglichkeit teste. Das Resultat: Obwohl der gelassene Patient so entspannt zu sein scheint, wie nur irgendwie möglich, muss ich all meine Kraft aufwenden, um den Arm ein wenig zu beugen. Rigor, ein typisch klinisches Zeichen für Parkinson. «Ja, das stimmt» «Tut Ihnen das weh, wenn ich ihren Arm bewege?» «Aber nein. Schön, dass er sich einmal bewegt.» Bei den Beinen konstatiere ich dasselbe, ein erschreckendes Phänomen. «Ich kann nicht mehr laufen, das macht mich traurig. Ich bin immer so viel gelaufen.»
«Bitte bleiben sie mit dem Kopf still und folgen Sie nur mit den Augen meinem Stift», instruiere ich den Patienten, der sogleich meiner Handbewegung nach links verfolgt. Ich wechsle die Seiten, da bleiben die Augen an meinem Gesicht hängen. «Mein lieber Herr, ist es Ihnen nicht möglich nach links zu schauen?» «Aber sicher!». Verwirrt versuche ich es nochmals und tatsächlich dieses Mal folgen seine kugelrunden Augen meinem Stift nach rechts, bleiben aber beim Übergang nach links wieder an meinem Gesicht hängen. «Mein lieber Herr, haben sie meine Instruktionen vorhin verstanden?» «Aber sicher!» «Warum folgen Sie mit Ihren Augen denn nicht dem Stift?» «Sie haben so schöne Zähne.» «Oh.» Das hat mir noch nie jemand gesagt. Schöne Zähne. Etwas geniert frage ich mich nur, was ich wohl beim Untersuchen für ein Gesicht mache, wenn der Patient meine Zähen begutachten kann…
«Achtung, jetzt gibt es einen Stich»
Lumbalpunktion. Einmal zugeschaut und sogleich: «Das nächste Mal macht ihr es selber.» Huch! Ein grosses, omnipräsentes Thema unter den Medizinstudierenden während des ganzen Stage. Jeder möchte es einmal probieren und wer es schafft, muss am nächsten Tag Kuchen für alle mitbringen.
In der dritten Woche habe ich dann auch einen Patienten, der eine Punktion braucht. Ich präpariere also den Wagen mit allen benötigten Materialien, gehe im Kopf nochmals alle Schritte durch: Zuerst mit dem roten Betadine desinfizieren, dann mit dem gelben; sterile Handschuhe überziehen, stechen. Los geht’s!
Der Assistenzarzt, der mich in meinem Unterfangen unterstützt, diktiert mir immer die nächsten Schritte laut vor: «Die Flanken auch desinfizieren! Ja genau, so ist es gut.» Dann ist es soweit, ich muss stechen. «Achtung, jetzt gibt es einen Stich, versuchen Sie sich zu entspannen.» Ich übe Druck auf die Nadel aus, sie verschwindet langsam im Körper des Patienten. Er atmet tief, ich atme tief. «Noch etwas weiter», erklärt mir der Assistenzarzt. Weitere 5 mm der Nadel verschwinden, es wird immer schwieriger zu drücken. Ich frage mich ständig: Wo ist meine Nadel hin?! Da meldet sich der Patient panisch: «Mir ist schlecht.» «Bring ihm einen Sack.», kommandiert der Assistenzarzt in aller Ruhe. Kurz darauf, mit einem Sack in der Hand, meldet sich der Patient wieder: «Mir wird langsam schwarz vor Augen.» «Legen Sie sich hin.»
Doch bevor der letzte Satz ausgesprochen ist, fängt der Patient an eine epileptische Krise zu entwickeln. Blitzschnell zieht der Assistenzarzt die Nadel wieder raus. Der Patient fängt an zu zucken, liegt sehr schief im Bett, zuckt weiter, wird ruhig und kommt wieder zu sich. «Wenn du nichts dagegen hast, versuche ich jetzt noch einmal zu stechen. Der Patient scheint nicht sehr entspannt zu sein. Bitte lenke den Patienten so gut es geht ab», schlägt mir der Assistenzarzt vor. Schweissgebadet nicke ich ihm mein Einverständnis zu, nichts lieber als das.
Also nochmals: Desinfizieren, stechen, ein Erfolg: Wir sind im Spinalkanal. Jetzt müssen nur noch die Proben entnommen werden. Mit der Frage: «Sie studieren also Germanistik?», versuche ich die Aufmerksamkeit des Patienten zu gewinnen und etwas Zeit zu überbrücken. «Im Moment kann ich an nichts anderes denken, als dass eine grosse Nadel in meinem Rücken steckt», meint der Patient trocken. Touché. Trotzdem: «Das ist ja spannend! Was hat Sie dazu inspiriert?», beharre ich. Er seufzt: «Meine Mutter ist Deutsche…»
Immerhin muss ich morgen keinen Kuchen mitbringen.
Eine ungewöhnliche Freundschaft
Zwei Wochen später grinst die alte Dame noch immer, nur liegt sie dieses Mal flach im Bett. «Wie geht es Ihnen, Madame? Ich habe gesehen, dass Sie morgen entlassen werden und wollte Sie nochmals sehen, bevor Sie gehen.» «Ach, die Schweizerin!», begrüsst sie mich. Wir reden über dieses und jenes, fliessend und stockend. «Bitte behalte deinen deutschen Akzent bei, der ist so süss!» «Naja, da machen Sie sich mal keine Gedanken. Ich höre gar keinen Unterschied.» «Wie steht es eigentlich mit dem schriftlichen Französisch? Willst du mir nicht Briefe schreiben, wenn ich wieder zuhause bin? So kannst du deine Grammatik verbessern. Ich verspreche dir auch zu antworten!»
Stolze Besitzerin einer Adresse verlasse ich kurz darauf das Zimmer. Ihr Grinsen aber nehme ich im Herzen mit. Los geht’s, zum nächsten Patienten!
1 Kommentar
Di, 30. Oktober 2018 / 10:13 Uhr
Herrlich – so leicht und unterhaltsam geschrieben, und gleichzeitig kann ich mir alles so gut vorstellen. Danke für den schönen Bericht, ich freue mich schon auf den kommenden !