«Gut» und «Nein, ich will nicht.» – Das sind die Antworten auf die beiden Fragen, die mir seit letzter Woche unablässig gestellt werden. Alle wollen wissen, wie es mir geht, und ob ich wieder nach Hause komme. Berechtigte Fragen, denn wie reagiert man, wenn sich während des Auslandsemesters eine Pandemie ausbreitet, der Semesterstart vertagt und Grenzen geschlossen werden? In vier Portraits liest du, wie Austauschstudierende aus der ganzen Welt mit der aktuellen Corona Situation umgehen.
Wir waren aufgeschlossen, neugierig und zuversichtlich, als wir uns kennenlernten. Eine Handvoll Austauschstudierende aus der ganzen Welt, denen ein Semester in einer fremden Stadt bevorstand. Wir schmiedeten Pläne, wie wir gemeinsam die bayerischen Alpen erkunden, in Bibliotheken büffeln und auf Partys ausgelassen tanzen würden. Wie wir alles aufsaugen, was uns dieses halbe Jahr bereitstellen würde.
Dann kam plötzlich alles anders. Die Coronakrise verschärfte sich. Veranstaltungen wurden abgesagt, Austauschprogramme gestrichen, Grenzen geschlossen und wir sahen uns plötzlich vor der Entscheidung – abreisen oder ausharren?
Mária, 20, aus Ungarn, studiert Internationale Beziehungen
Am 3. März ist Mária im vollgepackten Auto mit ihrem Vater in München angekommen. Sogar ihr Fahrrad hat sie von Budapest nach Bayern verfrachtet, schliesslich soll München im Frühjahr eine besonders fahrradfreundliche Stadt sein.
Damals dachte sie wohl kaum, dass sie bereits zwei Wochen später ihre Koffer wieder packen würde. Als Mitte März die Fallzahlen der Corona-Infizierten in Deutschland stark anstiegen, begann sich Márias Familie in Ungarn Sorgen zu machen.
Am 15. März schliesslich entscheidet sie, zurück nach Budapest zu reisen. Sie packt nur das Nötigste, ihr Zimmer im Studentenheim bleibt eingerichtet, denn sie hofft auf eine baldige Rückkehr. Zu jenem Zeitpunkt hatte Österreich seine Grenzen bereits geschlossen, weshalb Mária befürchtet, dass ihre Chancen auf eine Heimkehr durch das Herauszögern immer geringer würden.
Am 18. März reist sie ab und hält mich per WhatsApp auf dem Laufenden: «Ich bin jetzt an der ungarischen Grenze. Die Polizei hat den Zug angehalten, unsere Identitätskarten kontrolliert und gefragt, woher wir kommen. Reisende aus Tirol mussten den Zug verlassen und natürlich wurde allen die Temperatur gemessen!» Nach einer siebenstündigen Reise kommt sie zuhause an und atmet auf.
Maria lässt sich ihre «Erasmus experience» vom Coronavirus jedoch nicht nehmen. «Niemand hat diese Situation kommen sehen, aber wir müssen sie jetzt ernst nehmen.» Sie hat sich kurzerhand entschieden, sich für einen Erasmus-Aufenthalt in Litauen zu bewerben, im kommenden Semester, das hoffentlich ein pandemiefreies sein wird.
Horacio, 24, aus Argentinien, studiert Software Engineering
Horacio ist am 28. Februar in München angekommen. Endlich, könnte man sagen, endlich trugen die jahrelangen Vorbereitungen auf sein Auslandsemester Früchte. Mit 15 begann er Deutsch zu lernen, vier Jahre hat er an der Universität in Buenos Aires als Tutor für Austauschstudierende gearbeitet. Als Horacio schliesslich 2019 sein Auslandsemester zu planen beginnt, fehlt nur noch das Stipendium. «Aufgrund der Inflation ist es für Studierende aus Argentinien sehr teuer, in Europa zu studieren.» Er bewirbt sich für ein Stipendium* und bekommt es. Die Chance auf ein Auslandsemester in Europa wird plötzlich greifbar.
Von Februar bis August sollte Horacio in München leben und studieren. Erstes hat (bis jetzt) geklappt, zweites steht noch offen, denn der Start des Semesters wurde vorerst vertagt. An eine Heimkehr denkt Horacio dennoch nicht. «Ich möchte hierbleiben und meine Zeit so gut es geht geniessen, egal wie schlimm die Situation wird. Ich fühle mich hier genauso sicher, wie in meinem Heimatland.»
Natürlich habe auch er kurz an eine Rückkehr gedacht, nachdem viele Austauschstudierende ihre Koffer gepackt hätten. «Aber der Gedanke hielt nicht lange. Ich habe sehr hart gearbeitet, um hierher zu kommen. Es wäre schade, den ganzen Aufwand einfach hinzuwerfen.» Zudem ist sich Horacio nicht sicher, ob er überhaupt noch nach Argentinien zurückkehren könnte. «Ich habe mich darüber nicht informiert. Ich ignoriere all dies bewusst, um ruhig zu bleiben und mich nicht um Dinge zu sorgen, die ich nicht ändern kann.»
*Aufgrund der Inflation hat Horacios Stipendium vom Zeitpunkt, als es verliehen wurde, bis zu jenem, als das Geld tatsächlich auf sein Konto überwiesen wurde, umgerechnet etwa 600 Euro an Wert verloren.
Ryan, 22, aus den USA, studiert Marketing
Auch Ryan hat sich eine geraume Zeit auf sein Auslandsemester vorbereitet: drei Jahre. Seine Heimuniversität, die Wayne State University in Detroit, bietet Studierenden unterschiedlicher Fächer im Rahmen des «Junior Year in Munich» die Möglichkeit, ein oder zwei Semester in München zu verbringen.
Die Vorfreude war gross, auch wenn sich zu Beginn des Jahres leise eine potentielle Gefahr für das Gelingen des Auslandsemesters anschlich. «Zum Zeitpunkt meiner Abreise hatten wir in den USA etwa gleich viele Covid-19 Infizierte wie in Deutschland, ich glaube es waren circa 100. Aufgrund der Verschärfung der Situation in Italien war ich vor meiner Abreise etwas besorgt, mein Auslandsemester anzutreten. Ich hatte bereits da das Gefühl, dass mein Programm abgesagt werden könnte.»
Am 29. Februar kommt Ryan in München an. Er bezieht sein Zimmer, kauft sich ein Mobilfunk-Abo, registriert seinen Wohnsitz und schliesst bereits in kurzer Zeit Freundschaften. Dann passiert, was er befürchtet hatte: Präsident Trump verhängt in der Nacht auf den 12. März einen Einreisestopp für Europa. «Nach dem Entschluss des Präsidenten wurde mein Programm abgesagt. Meine Krankenversicherung und Unterkunft liefen über meine Heimuniversität. Es blieb mir nichts anderes übrig, als zurückzukehren.» Er kauft sich ein Flugticket, räumt sein Zimmer, verabschiedet sich und kehrt zurück. Am Flughafen in Chicago steht er fünf Stunden mit tausenden Menschen in Schlangen, wird von der Amerikanischen Gesundheitsbehörde untersucht und befragt.
Nun sitzt er erst einmal in Quarantäne. Die Kurse an seiner Heimuniversität haben bereits im Januar begonnen und somit ist es für Ryan zu spät, um jetzt noch (online) ins Semester einzusteigen. Das missglückte Auslandsemester wird sein Studium um ein halbes Jahr verlängern, eine nicht ganz günstige Angelegenheit in den USA.
Luis, 25, aus Peru, studiert Medizin
Luis ist der Einzige in dieser Porträtreihe, dem das Coronavirus bereits vor seiner Abreise einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Eigentlich hätte der angehende Arzt an der vierwöchigen «Oncology Winter School» teilnehmen sollen, wäre diese nicht bereits im Januar abgesagt worden. In einigen Monaten wird Luis sein Abschlussdiplom der Universität Lima in den Händen halten und da er sich im Fachgebiet der Onkologie spezialisieren will, wäre die Winter School eine ideale Möglichkeit gewesen, Einblicke in den Stationsalltag am Klinikum der Universität München zu erhalten und selber erste Praxiserfahrungen zu sammeln.
Luis weigerte sich, das Handtuch zu werfen. Da er zum Zeitpunkt der Absage der Winter School seinen Aufenthalt in München bereits organisiert hatte, entschied er sich, stattdessen an einem einmonatigem Deutschkurs teilzunehmen. Am 2. März ist er in München angekommen, exakt zwei Wochen später wurden auch Deutschkurs und Exkursionsprogramm abgesagt. «Ich habe zu jenem Zeitpunkt darüber nachgedacht, wieder nach Hause zurück zu kehren, es gab keinen Grund mehr für mich, hier in München zu bleiben.» Zwischen der Streichung des Deutschkurses und der Schliessung der peruanischen Grenzen lag jedoch lediglich ein Tag, zu knapp und vor allem zu teuer, um die Heimreise zu planen und anzutreten. Deshalb ist Luis in München geblieben. Wie lange er noch hier verweilen wird, das weiss auch er noch nicht. «Momentan kann ich nicht zurück nach Peru, aber hoffentlich gegen Ende April.»
Genauso vielfältig wie die Menschen, die ich in den ersten zwei Wochen meines Erasmus-Semesters kennengelernt habe, sind die Entscheidungen, die eben jene in den vergangenen Tagen getroffen haben. Diese sind geprägt von Faktoren, die meist nicht in den Händen jener liegen, die sie treffen müssen.
Ein Auslandsemester ist nicht selten das Resultat monatelanger Planung, Vorbereitung und kribbelnder Vorfreude. Das wirft man nicht einfach so hin, doch wenn die Umstände einem keine andere Wahl lassen, so legt man es vielleicht schweren Herzens für den Moment beiseite.
Natürlich musste auch ich mir die Frage stellen, ob ich in München bleibe oder zurück nach Basel komme. Meine Gesundheit stand bei dieser Frage an oberster Stelle und da Deutschland ein gutes Gesundheitssystem hat und ich hier krankenversichert bin, war für mich eine Rückkehr keine Option. Jetzt muss ich mich nur noch daran gewöhnen, dass ich München vorerst durch mein Fensters entdecken werde…
Alle Portraits wurden ohne persönlichen Kontakt im Home Office geschrieben.