Es gibt nur eine endliche Zahl an Aktivitäten, die man in einem Zimmer tun kann. Ich habe die metamorphischen Qualitäten meiner eigenen vier Wände in den vergangenen Wochen bis aufs Äusserste ausgereizt. In meinem «Schlafzimmer» habe ich gearbeitet, gegessen, geschwitzt, geklimpert und vor allem: geschmökert.
Ich weiss, die meisten werden sich nun denken: «Nicht schon wieder irgendwelche Lektüreempfehlungen. Nach Corona habe ich Lesestoff für den Rest meiner Tage!» Ich weiss, ich weiss, es wimmelt momentan überall nur so von Empfehlungen von Menschen, die sich als besonders bibliophil einschätzen, und nun in der Stunde der Wahrheit der Welt verkünden, was man unbedingt gelesen haben sollte.
Ich habe mir deshalb etwas anderes überlegt. Denn obwohl auch ich mich zumindest zeitweise von Büchern ernähren könnte, habe ich in den vergangenen Wochen mit Erschrecken festgestellt, dass das Auffassungsvermögen meiner Augen nicht unbeschränkt ist. Ergo, es lässt sich nicht den ganzen Tag lesen.
Am Scheideweg des Problems, weiterlesen und noch trockenere Augen oder Buch weglegen und Langeweile aufsaugen, entstand die Idee zur Eigenart meiner Bücherliste, deren Titel sich nicht nur lesen, sondern auch hören lassen. Alle hier vorgestellten Texte sind frei als Hörbücher, Musikalben, Podcasts oder sonstige Audiodateien verfügbar und bergen damit das Potenzial, in besonders lesereichen Zeiten den Augäpfeln etwas Entlastung zu gewähren.
Dieser Umstand hat dazu geführt, dass die Liste eher praktisch orientiert ist und deutlich weniger wohl kuratiert. Sprich, Kraut und Kabis treffen hier aufeinander, lyrische Songtexte auf Ted Talks und Sachbücher. Wer also sonst eher selten zum Buch greift und wem nun, in Zeiten jeglicher Abwesenheit von Fomo (Fear of missing out), doch noch eine Mussewelle überrollen sollte, dem lege ich folgende Texte besonders ans Herzen.
David Foster Wallace – This Is Water (Audioaufnahme, 23’)
Die meisten kennen David Foster Wallace durch seinen 1996 erschienenen Wälzer Infinite Jest (in deutscher Übersetzung Unendlicher Spass). Diese 1500 Seiten sollen hier aber nicht vorgestellt werden, sie mögen all jenen mit besonders langem Atem gegönnt sein.
Neben der Schrifstellerei war Wallace als Hochschullehrer tätig. 2005 hielt er vor den Absolventen des Kenyon Colleges eine Abschlussrede, die mittlerweile beinahe zum Klassiker avanciert ist. Ich mag diesen Text, weil er frei von Floskeln ist und unglaublich unakademisch daherkommt, denn er hat tatsächlich etwas mit dem echten Leben zu tun. «Über weite Teile des Erwachsenenlebens spricht kein Mensch in Abschlussreden». Genau dort, bei jenem Kleinkram des Alltags, sei es aber unabdingbar, dass man «über das Wie und Was des eigenen Denkens eine gewisse Kontrolle ausübt.» Wie das gelingen soll, führt er in This Is Water aus, einem Essay, in den es sich einzutauchen lohnt.
Chimamanda Ngozi Adichie – We Should All Be Feminists (Ted Talk, 30’)
Ich habe kurz gezweifelt, dieses Buch hier an zweiter Stelle anzuführen. Dann verliere ich schon mal all diejenigen unter euch, die in irgendeiner Form allergisch auf das Wort Feminismus reagieren. Das habe ich mir zumindest zu Beginn gedacht. Zwei Sekunden später wurde mir bewusst, dass genau das die Quintessenz von Chimamanda Ngozi Adichies Text ist: Wir alle sollten uns mit dem Thema Feminismus auseinandersetzen. «Gender as it functions today is a grave injustice. I am angry. We should all be angry. Anger has a long history of bringing about positive change.» In We Should All Be Feminists erklärt Chimamanda Ngozi Adichie, warum Feminismus kein Thema von gestern ist, sondern ein Thema von heute sein muss, dass es in Zukunft vielleicht kein Thema mehr sein wird.
Kate Tempest – Let Them Eat Chaos (Musikalbum, 48’)
Kate Tempest ist eine Art säkulare Predigerin für mich. Wenn sie ihren Mund öffnet, hänge ich ihr an den Lippen und wünsche mir, dass sie nie aufhört. Ich inhaliere ihre Worte wie eine Droge. Die britische Sprachkünstlerin arbeitet in unterschiedlichen Medien: sie rappt, schreibt Gedichte, Theaterstücke und Romane.
Ihr zweites Studioalbum Let Them Eat Chaos handelt von sieben Nachbarn, die nachts keinen Schlaf finden und mit Einsamkeit, Geldproblemen, Liebeskummer und Lustlosigkeit kämpfen. Tempest beschreibt ein Panoptikum persönlicher Schicksale, anhand derer es ihr gelingt, globale Missstände zu bennenen.
Sie rappt über die Klimaerwärmung («The water level’s rising! The water level’s rising! The animals, the elephants, the polarbears are dying!»), Gentrifizierung («London’s a walled fort, it’s all for the rich / If you fall short, you fall, and you know where the door is»), Nationalismus («England, England, Patriotism, and you wonder why kids want to die for religion?»), Krieg («She’s screaming, she’s screaming / The drones turned her beautiful boy into a pile of bones») und soziale Vereinsamung («The days go past like pictures on a screen / Sometimes I feel like my life is someone else’s dream»).
Kate Tempests Texte sind harte Kost, sie beschönigt nie und rappt in aggressivem Ton. Und dennoch ist sie nie zynisch, vielmehr plädiert sie für Empathie und Nächstenliebe. In diesen turbulenten Zeiten scheint mir das eine angemessene Portion Hoffnung.
Das Album ist auf Spotify verfügbar. Kate Tempest nicht nur zuzuhören, sondern auch zuzuschauen ist ein berauschendes Erlebnis, das ich allen herzlich empfehle. Möglich ist das zum Beispiel auf BBC oder KEXP.
Kübra Gümüşay– Sprache und Sein (Hotel Matze 2h 25’, SRF Sternstunde Philosophie 59’)
Dieses Buch hat mich weggefegt. In ihrem Erstling Sprache und Sein analysiert Kübra Gümüşay anhand zahlreicher Beispiele, wie Sprache unser Denken formt. «Sprache öffnet uns die Welt und grenzt sie ein – im gleichen Moment.» Yakamoz ist die türkische Bezeichnung für die Reflexion des Mondlichts auf dem Wasser. Seit sie das Wort kenne, nehme sie dieses Leuchten auf der Wasseroberfläche ständig war. «Und ich frage mich, ob die Menschen um mich herum es auch sehen. Auch jene, die das Wort yakamoz nicht kennen.»
Wir sind begrenzt durch unsere Sprache und wir grenzen Menschen durch unsere Sprache aus. So stellt Gümüşay beispielsweise die Frage, ob wir, wenn wir von «Chirurgen» sprechen, tatsächlich auch weibliche Vertreterinnen jener Berufsgruppe damit meinen? Konnte eine Frau in den 60er Jahren, als der Begriff «sexuelle Belästigung» noch nicht weit verbreitet war, einen Übergriff als solchen erkennen?
Sprache und Sein ist ein Plädoyer für die Auffassung von Sprache als Werkzeug, das eine bewusste und verantwortungsvolle Handhabung fordert. «Wir müssen uns mit der Architektur der Sprache beschäftigen, die unsere Realität erfassen soll. Damit wir aussprechen können, was ist. Damit wir sein können, wer wir sind.»
Als kleinen Vorgeschmack empfehle ich den Podcast Hotel Matze, in dem Matze Hielscher sich zweieinhalb Stunden mit Kübra Gümüşay über Sprache und Sein unterhält. Ebenfalls überaus interessant: Sternstunde Philosophie mit Kübra Gümüşay und Bernhard Pörksen.
Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt (Deutschlandfunk Kulturfragen, 25′)
Zum Schluss empfehle ich allen die Lektüre dieser Zeitanalyse, die zum Denken anregt. Mehr sei dazu nicht gesagt, denn ich glaube die Augen all jener von euch, die es bis hier geschafft haben, ausreichend strapaziert zu haben…
So, ich wünsche allen viel Ruhe und Musse bei der Lektüre, oder aber beim aufmerksamen Lauschen. Und nicht vergessen, falls ihr doch zum analogen Buch greifen sollt, unbedingt lokale Geschäfte unterstützen!