Auslandssemester: Das Spektrum der Erasmus-Typen

Wenn man am 11.11. um 11:11 Uhr mit Mexikanern, Engländern, Deutschen und Menschen aus allen möglichen Winkeln der Welt in Bordeaux Karneval feiert, befindet man sich wohl in einer Erasmusstudierenden-WG; Studierende so variantenreich wie die kunterbunten, auf und ab hüpfenden Kostüme in dem mit Bier-Duft gefüllten Wohnzimmer. Was es alles für Erasmustypen gibt und wie sie jeweils Karneval feiern, liest du hier:

Zur Einführung muss ich wohl kurz erklären, dass die Erasmusstudierenden untereinander sehr gut vernetzt sind. Es gibt Facebook-Gruppen und riesige WhatsApp-Gruppen, um sich nie alleine fühlen zu müssen. Am Anfang ist das auch wunderbar praktisch; diverse Treffen werden angekündigt und man lernt neue Leute kennen. Spätestens nach einer Woche muss man den Chat hingegen auf stumm schalten, um nicht vollständig zugespamt zu werden. Ich habe die Gruppe am Ende sogar verlassen, nachdem im Chat nach Drogen gefragt wurde. Das war, behaupte ich, einmalig und repräsentiert nicht den typischen Erasmusstudierenden, zeigt hingegen, wie unterschiedlich die Motivationen sein können, um ein Auslandssemester zu beginnen.

Typ Nr. 1 : Der Erasmuskönig
Ein Bayer, Physikstudent, haarige Beine, roter Lippenstift und Minirock. Ein schönes Exemplar. Die netteste Seele auf dieser Welt mit einem unglaublichen Charme, wenn er mit seinem bayerischen Akzent französisch spricht. Nach wenigen Wochen war ihm klar, dass er die Prüfungen hier in Frankreich mit humanem Aufwand ohne Probleme bestehen würde. Die Folge davon: Bald schon hatte er die Bar mit dem billigsten Bier in Bordeaux ausfindig gemacht und zack, ab ging’s: Wildeste Geschichten hat man gehört; nicht ganz ungefährliche Velofahrten und auch einen Rausschmiss aus der geliebten Bar sind Teil davon. Mit viel Humor und einem Schulterzucken wird er sich aber ganz bestimmt an ein wunderbares Erasmussemester zurückerinnern, mitsamt bestandenen Prüfungen. Ehre, wem Ehre gebührt.

Typ Nr. 2 : Die Erasmussekretäre
Kostümbezogen nicht besonders auffällig, aber ganz nette Menschen, diese Sekretäre. Wissen einfach über alles Bescheid. Ganz im Gegensatz zu mir: Wenn ich zum Beispiel auf der ‚Université de Bordeaux‘-Website nach meinen Prüfungsdaten suche, verbringe ich eine Stunde vor meinem Rechner, verlinke mich immer weiter und muss trotz Hilfe-Funktion letztlich doch mit eingeknicktem Stolz noch den Erasmussekretären schreiben und darum bitten, mir den entsprechenden Link zuzuschicken. Doch das organisatorische Talent der Erasmussekretäre endet nicht mit den Universitätsinformationen, auf jeden Fall nicht bei den Hochbegabten: Zugvergünstigungen, Skipass-Angebote, Sportkurse, Anmeldefristen… Sie haben die absolute Kontrolle, denn Wissen ist Macht.

Typ Nr. 3 : Die Feierverückte
Mexikanerin, mit Cowboy-Hut, einem etwas unheimlichen, unfokussierten Blick begleitet von einem breiten Grinsen. Sehr jung, sehr feierfreudig. Was sie genau studiert, kann ich nicht sagen, darüber unterhielten wir uns nicht. Obwohl wir einmal ein ganzes Wochenende lang zusammen wandern waren. Allgemein scheint das Studium nicht so wichtig zu sein. Auf jeden Fall ist sie bei jeder Party dabei und wenn ‚Hände zum Himmel‘ gesungen wird, hört man von ihr ein lautes «Woohoo». Hauptsache Feiern, Hauptsache Spass.

Typ Nr. 4: Die Seriösen
Sogar die Verkleidung ist seriös: Aufwendige Gesichtsbemalungen und dazu passende Kleidung. Es wird nicht viel getanzt oder getrunken. Es ist schliesslich Sonntag und morgen stehen wieder Vorlesungen auf dem Plan. Die Seriösen sind immer in engem Kontakt mit den Erasmussekretären. Sie lernen seit dem zweiten Wochenende des Semesters jeden Tag mit gemässigten Aufwand für die Prüfungen, gehen nicht exzessiv Feiern und wenn man zum Abendessen bei ihnen eingeladen wird, ist der Abend um 23:00 Uhr beendet. In der Freizeit, nachdem man den ganzen Tag schon an der Universität verbracht hat, gehen sie noch freiwillig in Französisch-Kurse. Wirklich wunderbare Menschen, die es irgendwie immer schaffen, bei mir ein schlechtes Gewissen auszulösen, wenn ich statt im Französisch-Kurs an der Garonne sitze und die Sonne geniesse…

Typ Nr. 5: Der Entdecker
Ein grosser, schlanker Mathematiker aus Köln, der Initiator der ganzes Karnevals und gut mit dem Erasmuskönig befreundet. Man muss wohl sagen, dass es kaum einen Menschen gibt, mit dem er nicht befreundet ist. Eine sprudelnde Ideenfontäne, ein hochmotivierter Mensch, der wo immer er auch ist oder was er auch macht, Reaktionen und kleine Revolutionen auslöst. In den Vorlesungen sei er dafür bekannt geworden, dass er dem Professor zuhören kann, währenddem er (Achtung!): isst. Erstaunliche Sache, auf jeden Fall für französische Studierende. Er hat auch einen Schauspielkurs von der Universität belegt und versucht sich neu im Tanzen von Rock’n’Roll. Organisiert Wanderausflüge, Feten, hört gerne Rihanna und verwendet das Wort ‚chouette‘ sehr oft. Es hört sich eben ‚chouette‘ an und bedeutet zur gleichen Zeit ’super‘ und ‚Eule‘, so ein Wort muss man zuerst finden. Ebenso verrückt wie seine Verkleidung: Ein grau-schwarzer, klein-karierter Blazer, ein knallgelbes Hemd kombiniert mit einer aus Grossmutters Vorhängen gefertigten, braunen Krawatte, einem Käppchen und immer ein verschmitztes Lächeln im Gesicht. Völlig weltoffen, interessiert daran Menschen und Kulturen kennenzulernen, immer bereit dazu Neues zu erleben und zu entdecken. Mein grosses Erasmus-Idol.

 

Wie du siehst, findet man ein total heterogenes Gemisch an Charakteren vor und mit diesen fünf Typen habe ich bestimmt noch nicht alle Persönlichkeiten abgedeckt. Jeder hat verschiedene Vorstellungen davon, was man in einem Erasmussemester erlebt haben muss und wie man das umsetzen kann.

Das Aufeinandertreffen dieser teils kontroversen Charaktere führt zum Austausch von Ideen und Lebensentwürfen. So gesehen ist ein Auslandsaufenthalt ein starker Katalysator für die eigene Entwicklung. Durch das Spektrum aller hinzugewonnenen Perspektiven betrachtet man seine spezifische Situation aus vielen neuen Winkeln.

Ich stelle mir dafür gerne den verkehrten Weg der Dispersion eines Prismas vor: Das Ergebnis sind dabei nicht die gebrochenen, unterschiedlichen Wellenlängen, sondern das unsichtbare Licht. Die Lichtstrahlen fügen sich zusammen und ergeben etwas Ganzes, etwas Vollständiges, wovon man nur Kenntnis hat, weil man die verschiedenen Ursprünge kennt. Auch wenn man also nicht mit jedem auf der gleichen Wellenlänge liegt, sollte man versuchen, das Ganze aus anderen Augen zu sehen und neue Horizonte zu entdecken.

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