Studieren früher und heute

Erzähl mal, Opa. Keine einzige Frau als Kommilitonin? Das Essen in der Mensa kostete umgerechnet 50 Rappen? Früher war vieles anders. Aber es war nicht unbedingt besser, oder?

Der Weg zum Studium
Anfang der Fünfziger Jahre, Nachkriegsdeutschland. Nur wenige besuchen in ländlichen Gebieten ein Gymnasium. In den Nachwirren des Krieges schaffen viele das Abitur, die deutsche Variante der Matura, nicht. Diejenigen, die scheitern, machen meist eine Lehre. Einer von ihnen ist mein Grossvater. Er entschliesst sich dennoch, den Plan eines Studiums in die Tat umzusetzen und fährt mit dem Motorrad nach Karlsruhe, um seinen alten Lehrer zu besuchen. Das Problem: Der Wille ist da, aber das Abitur fehlt. Der Lehrer kann helfen. Nach einem Vorsemester an der Hochschule, erreicht mein Opa die Fachhochschulreife und kann sich immatrikulieren. Er beginnt mit dem Studium des Hochbaus.

Zeitsprung ins einundzwanzigste Jahrhundert. Das Abitur habe ich in der Tasche. Lange genug habe ich mich mit Schiller und Integralen gequält. Lieblingsfächer Biologie, Politik und Kunst. Was studieren? Gute Frage. Also erst einmal ein Jahr ins Ausland. Mich selbst finden. Ich will mein Herz an ferne Orte verlieren und herausfinden, was ich mit dem Rest meines Lebens anstellen will. Entfernung hat in Zeiten des Internet an Bedeutung verloren. Sich über eine Distanz von siebentausend Kilometer bei Universitäten zu bewerben ist kein Problem. Wieder zu Hause beginne ich mit dem Studium an der Uni Basel.

 

Das Studium
In den fünfziger Jahren finden die meisten Vorlesungen in Klassengrösse statt. Schnell kennen die Professoren die Namen der Studierenden. Die Dozenten, die in der gleichen Studentenverbindung wie mein Grossvater sind, lassen sich ausserhalb der Universität sogar von ihm duzen. Die meisten der Kommilitonen meines Grossvaters sind fleissig. Wer hier ist, möchte wirklich den Abschluss schaffen. Besonders auffallend: Bei meinem Opa ist keine einzige Frau im Semester. Beamer und Overheadprojektoren gibt es natürlich auch nicht. Die Dozenten benutzen nur Tafeln. Jedes Wochenende zeichnen die Studenten Baupläne; sauber von Hand, ohne Computerprogramme.

Für mich ist das kaum vorstellbar: Ich sitze mit bis zu vierhundert anderen Studierenden in der Vorlesung. Jeden Tag entdecke ich neue Gesichter. Smartphones, Tablets und/oder Laptops gehören zur Grundausstattung. Die Wahrscheinlichkeit, zu wissen, wann Apple ein neues iOS Update herausbringt ist bei den meisten wohl höher, als den Namen den Sitznachbarn zu kennen. Von Semester zu Semester lichten sich die Reihen. Viele sind motiviert, manche eher nicht. Professoren kennen die Namen ihrer Studierenden (zumindest im Bachelor) in der Regel nicht. Es sei denn, man schreibt ihnen ständig E-Mails und stellt Fragen nach der Vorlesung. Online-Plattformen wie Adam gehören zu meinem Studienalltag. Damit sind Materialien immer und überall zugänglich. Natürlich ist das Studium auch komplexer geworden. Die Forschung steht nicht still und immer neue Erkenntnisse werden in Vorlesungen vermittelt, neue Bücher gedruckt und Lehrpläne erweitert.

Das Studentenleben
Zur Zeit meines Opas ist alles günstiger. Das Essen in der Mensa? Fünfundfünfzig Rappen. Der Humpen Bier in der Stammkneipe? Zwanzig Rappen.  Mein Grossvater wohnt bei der Familie des Lehrers, der zu Beginn des Studiums geholfen hat. In der Freizeit besucht er die Oper und geht ins Theater. Kulturelle Veranstaltungen gehören zum Studium generale. Dass mein Grossvater ein Mädchen zum Tanz ausführen kann, kommt eher selten vor. Dazu braucht es die Zustimmung der Eltern. Fernab der Heimat wird für meinen Grossvater die Studentenverbindung immer mehr zur „Ersatzfamilie“.

Das Mensaessen kostet heute ca. acht Franken. In der Prüfungszeit setzen die meisten Studis aber auf eine Flüssigkeitendiät: Wahlweise Kaffee oder Energy Drink.Die Studierenden wohnen heute in WGs, im Wohnheim oder noch Zuhause. Viele pendeln, denn dank der guten Infrastruktur sind Strecken wie Basel/Bern oder Basel/Zürich heute kein Problem. Auch abends haben wir die freie Wahl: Essen beim Chinesen, ins Kino oder zu Freunden gehen oder in einen Club feiern, alles kein Problem. Es kommt vor, dass einem Geschöpfe des anderen Geschlechts zu nahe kommen. Ganz ohne Erlaubnis, vor allem nicht die meiner Eltern. Vielen scheint ein kleines, viereckiges Gerät an die Hand gewachsen zu sein. Die soziale Kontaktaufnahme wird dadurch erschwert, virtuelle Nonsense-Kommunikation aber erleichtert.


Das Leben nach dem Studium
Das Diplom, damals noch Staatsexamen, in der Tasche, wird mein Grossvater von seiner Freundin in der fernen Stadt abgeholt. Sie packen alles in einen kleinen VW, das Zeichenbrett wird aufs Dach geschnallt und es geht voller Stolz ab nach Hause. Der Vater meines Opas, mein Urgrossvater also, gratuliert nicht, denn er war nie für ein Studium. Er wollte, dass mein Grossvater den Familienbetrieb übernimmt und nicht einen Architekten als Sohn. Rückblickend  war die Entscheidung fürs Studium trotzdem die Richtige.

Und nach dem Studium im einundzwanzigsten Jahrhundert? Wir werden sehen. Ich bin mir sicher, die Entscheidung für das Studium wird die Richtige sein.

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