Mein Häfelipraktikum im Kinderlager: extrem anstrengend und unglaublich bereichernd

Konstantes Kreischen, schlimme Schimpfwörter, lustiges Lachen, krimineller Kampfgeist, übertriebene Übermüdung und spektakulärer Spass. So stellt man sich ein Lager voller begeisterter Jugendlicher vor. Im Kinderlager der Schweizerischen Muskelgesellschaft kommt noch etwas dazu: Ratternde Rollstühle. Wie ich das lebhafte Lager am eigenen Leib erfahren habe, was Rollstühle gefährlich macht und wieso das Kinderlager vor allem für Medizinstudenten sehr interessant ist, lest ihr hier:

Ende Juli findet im Sportcamp von Melchtal das Kinderlager der Schweizerischen Muskelgesellschaft statt. Daran nehmen nur Kinder teil, die an einer Muskelkrankheit leiden. Die wenigsten von ihnen können noch kurze Strecken selbst bewältigen, die meisten sind rund um die Uhr auf fremde Hilfe angewiesen. Diese unheilbaren Krankheiten beeinträchtigten das Leben der Kinder und Jugendlichen in so gut wie allen Aspekten. Muskelerkrankungen verringern auch die Lebenserwartung deutlich; die Betroffenen überleben meist das junge Erwachsenenalter nicht. Umso lebendiger und präsenter sind diese starken Persönlichkeiten während der Zeit, die Ihnen bleibt. Jedes Jahr erwecken sie ganz Melchtal mit ihrem Gelächter zum Leben.

Ich war bereits zwei Mal als Betreuerin mit dabei: Das erste Mal, hatte ich mich gemeldet, um so das im Medizinstudium an der Universität Basel obligatorische Häfelipraktikum zu absolvieren. Danach war es um mich geschehen und die Kinder hatten mich um den Finger gewickelt und ich wollte unbedingt wieder mit dabei sein.

Man nehme:

15 muskelkranke, fröhliche Jugendliche (Meistens sind Buben betroffen, da die Krankheit gonosomal rezessiv vererbt wird), 25 motivierte Betreuerinnen und Betreuer, eine ausgezeichnete Köchin sowie vier durchgeplante Lagerleiterinnen und Leiter, mixt es zusammen, würzt es mit ein wenig alpiner Bergluft und lässt es zwei Wochen lang ziehen. Das Ergebnis sind 15 muskelkranke, fröhliche Jugendliche, 25 müde Betreuer, eine immer noch ausgezeichnete, jedoch ausgelaugte Köchin und vier Lagerleiterinnen und Lagerleiter am Ende ihrer Kräfte. Was bleibt: prägende Erfahrungen, tiefgreifende Gespräche, unbezahlbare Erinnerungen sowie ein wehmütiges Lächeln auf den Lippen, wenn man anderen von dieser Zeit berichtet. Ganz recht, ich schreibe diesen Artikel mit einem fetten Grinsen im Gesicht.

Go hard or go home

So lautet das Motto. Jede Minute des Tages gibt es was zu tun: Man hilft den Kindern früh morgens auf (je fortgeschrittener das ‚Teenager-Alter‘ ist, desto schwieriger kann das werden), macht Ausflüge, denkt sich Unterhaltungsprogramm passend zum jeweiligen Lagerthema aus (z.B. In 12 Tagen um die Welt oder Sherlock Holmes), spielt ‚Räuber und Bulle‘, Unihockey, Kartenspiele, singt, tanzt, gibt einfach alles für die Kinder und das mit grosser Freude.

,,Hey Alte!“ und meine Toilettenerfahrung

In meinem ersten Lager, ohne jegliche Pflegeerfahrung, wurde mir ein sehr pflegeaufwendiges Kind zugeteilt. Das war ja klar, denke NICHT an einen rosaroten Elefanten. Ich wurde also in das kalte Wasser geworfen, wofür ich heute sehr froh bin. Der Jugendliche redete nicht sehr gerne, also redete halt ich oder sang ein wenig vor mich hin, bis er mir befahl: ,,Alte, hör uf singe!“. Ja, ich wurde zwei Wochen lang Alte genannt und ich reagiere bis heute noch auf die Anrede.

Schnell lernt man, wie man das Kind lagern soll, damit es die ganze Nacht über schmerzlos schlafen kann, denn selbständig kann es seine Liegeposition die ganze Nacht lang nicht mehr ändern. Ausserdem macht man während diesen zwei Wochen diverse, tragisch komische Erfahrungen mit der Urinflasche, wobei man das Sprichwort ‚das kann ins Auge gehen‘ nicht ernst genug nehmen kann.

Das hört sich alles nicht so spassig an, aber das grossartige Gefühl, wenn man sein Kind wie automatisch ins Bett manövrieren, die Magensonde abhängen, das Inhalier Gerät korrekt benutzen und die Atemmaschine montieren kann, ohne viel Korrigieren oder bekümmertes Beklagen des Kindes, ist einfach fantastisch! Man steckt viel Herzblut in die Pflege, die Gesundheit und Zufriedenheit des Kindes – man will einfach alles so gut wie möglich machen.

In meinem zweiten Lager betreute ich ein anderes Kind, der Macho der ganzen Gruppe, welches hingegen sehr pflegeleicht war. Er wollte nur nicht so gerne alleine auf der Toilette sitzen, weshalb ich neben ihm stehen bleiben musste, bis er fertig war. Die Alte mit ihrem neuen Eau de Toilette.

Im Rollstuhl Unihockey spielen

Die Rollstühle sind natürlich omnipräsent im Lager. Manchmal wird durch Schmerzen am Fuss (Rollstuhlattacke) jäh an sie erinnert, manchmal krachen sie in Gegenstände hinein, manchmal stellen kleine Treppenstufen ein unüberwindbares Hinderniss für sie dar und manchmal sind sie echt schnell und wendig, wie beispielsweise beim Unihockey. Diejenigen Kinder, welche den Hockeystock noch selber den Stock halten können, bedienen mit links ihren Rollstuhl und schwingen mit dem rechten Arm den Schläger. Jene, die nichts mehr halten können, bekommen ein Kreuz vor den Rollstuhl montiert, mit dem sie den Ball dann auffangen und weiterbefördern können. Wenn alle Vorkehrungen getroffen worden sind, geht’s ab: Die Kinder spielen entweder in Teams mit selbstgebastelten Bannern gegen einander, oft auch gegen ihre gehfähigen Betreuer, oder gegen ihre Betreuer die versuchsweise mal selber im Handrollstuhl sitzen.

Eine Aufgabe, an der wir Betreuer kläglich gescheitert sind. Zugegeben, unsere Fahrgeräte hatten im Unterschied zu denen der Gegner keinen elektrischen Antrieb. Gleichzeitig ins Rollen zu kommen, den Stuhl zu lenken und dann auch noch den Stock zu bedienen, stellte sich als unmögliches Unterfangen heraus. Es endete damit, dass die Betreuer vor Verzweiflung ihren eigenen Rollstuhl anschriehen und sich dabei nicht vom Fleck rührten. Währenddessen wurden wir von den Kindern umkreist und ausgelacht, während sie ein Tor ums andere schossen. Auf jeden Fall war es mal ein kleiner Einblick darin, wie sich eine Behinderung wohl anfühlen mag. Einfach scheisse.

Einfach mal Abheben!

Ein weiteres spezielles Erlebnis war unser Ausflug mit dem Militär: Wir durften im Helikopter mitfliegen! Schon Tage im Voraus herrschte helle Aufregung und alle redeten nur noch von Super Pumas. Jeweils vier Kinder konnten mit dem Helikopter bis zum offiziellen Mittelpunkt der Schweiz mitfliegen, wo ein Picknick veranstalteten wurde, bevor wir dann wieder zurück schwebten. Auf dem Rückweg machte der Pilot auch diverse Kunststücke, die mir einen Europaparkausflug ersparten. Die Reaktion und Freude der Kinder war das Beste des ganzen Tages: ,,Alte, ich konnte beim Sturzflug meine Arme wieder heben! Das war wieder das erste Mal seit Jahren! Wahnsinn!“ Ein Stich ins Herz – die Welt ist nicht gerecht.

Alle guten Dinge sind drei

Diesen Sommer konnte ich leider nicht teilnehmen, besuchte die Kinder aber an einem Wochenende mit anderen Ex-Betreuerinnen zusammen. Dabei wurden wir mehrmals gefragt: ,,Kommst du nächstes Jahr wieder? Ja..? Das wäre schön… “ Mein Herz schmolz dahin wie Schokolade an diesen heissen Sommertagen.

Für Medizinstudenten an der Universität Basel lohnt es sich gleich doppelt diese Erfahrung als Betreuerin oder Betreuer zu machen. Mit der Lagerteilnahme kann man das Häfelipraktikum in zwei anstatt vier Wochen erledigen. Wer den Sommer also unvergesslich machen möchte, sollte sich unbedingt anmelden. Man kann so vieles lernen.

1 Kommentar

  1. Susanna
    Fr, 20. Oktober 2017 / 21:51 Uhr

    Hey,
    ein neuer Blog: https://medicalresearcher.wordpress.com/ einer Medizinstudentin in Marburg.
    Danke für diesen hier. Ich lese ihn super gerne!
    Liebe Grüße

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