Das bittersüsse Nichtstun

Zehn Tage weg, irgendwo im Jura. Ein riesengrosses Haus, unbekannte Menschen. Rundherum nur Wälder und Moore, Höhlen und Gratwege. Und kaum Netz. Ein Managerseminar, quasi. Nur ohne Manager. Wie das wohl ist?

Ich hatte ja schon viel davon gehört, von immer mehr Menschen aus meinem Freundeskreis. Denn jedes Jahr gehen ein paar mehr mit in dieses Sommerlager, und die meisten bleiben dabei. Es sei sehr toll, man sei sehr frei, die Natur sei sehr schön und man habe kaum Verpflichtungen. So ein bisschen forcierte Entspannung klingt eigentlich gut – und nötig. In der Woche vor der Abreise habe ich jeden Tag volles Programm.

Das Haus ist riesig und verwinkelt, ein aus- und umgebauter jurassischer Hof. Gekocht wird mit Holz, geduscht mit Solarzellen, gegessen wird draussen. Es gibt klare Essenszeiten und jeden Morgen ein Treffen aller Anwesenden, ansonsten gibt es kaum Regeln und noch viel weniger Pflichtprogramm.

Die Gegend heisst Dessous, unten, im Tal. Und so fühle ich mich auch am zweiten Tag. Beim morgendlichen Treffen erzählen die meisten Anwesenden, wie sehr sie sich auf die Zeit freuen, aufs Nichtstun, auf die andern Menschen. Es gibt einiges an Angeboten für den Tag, von einem Spaziergang bis zu gemütlichem Beisammensein unterm Apfelbaum. Ich weiss gar nicht, wo ich mich anschliessen will, und die Entscheidung wird mir vom Küchendienst abgenommen.

Als ich dann frei bin, erschlägt mich die sommerliche Hitze. Ich will irgendwas machen, mag aber nicht und verziehe mich, frustriert von meiner Antriebslosigkeit, ins Zimmer.

«Das ist jetzt deine Aufgabe», meint der Freund, der schon mehr als sein halbes Leben jeden Sommer hier ist, «herauszufinden, was du willst.»

Am nächsten Morgen spreche ich mein Dilemma beim morgendlichen Treffen an. Dass es mir schwer fällt, nichts zu tun, nichts zu tun zu haben. Einige in der Runde nicken. Das hilft, ich fühle mich etwas weniger allein.

Ich versuche, mir selbst Aufgaben zu geben. Einmal am Tag giesse ich das Kräuterbeet, Baumsetzlinge und Topfpflanzen. Ich versuche, an mindestens einer angebotenen Aktivität teilzunehmen, und mindestens einmal am Tag das Gelände zu verlassen, und seien es nur ein paar Schritte in den nahegelegenen Wald oder das Moor.

Der Weg ins Moor dauert nur etwa zehn Minuten, in denen sich die Vegetation alle paar Meter drastisch ändert. Saftiges Gras und Tümpel voller Kaulquappen geben den Raum für Walderdbeeren, junge Nadelbäume und moosbedeckte Abhänge frei, die gleichdarauf wiederum in einen lichten Mischwald voller blühender Disteln und Margeriten übergehen. Nach einem kurzen Gang durch einen Sumpf und Schachtelhalme folgt man einem kleinen Weg zwischen verschiedenen Büschen, bis plötzlich Torfmoos unter den Füssen sanft nachgibt und Heidelbeersträucher an den Beinen vorbeistreichen.

So viele verschiedene Landschaften innert so kurzer Zeit kenne ich sonst nur aus Videospielen.

Je besser ich die Menschen und die Dynamiken kennenlerne, desto einfacher fällt es mir, nicht das Gefühl zu haben, ich müsse an angebotenen Aktivitäten teilnehmen – ich bin immer noch fast jeden Tag irgendwo mit dabei, aber ich habe weniger Angst, den Anschluss zu verlieren, wenn ich mich zurückziehe.

Befreit von dieser Angst ist es einfacher, die verbleibenden Tage zu geniessen. Ich streune immer weiter weg vom Haus, pflücke Blumen, sammle Moos und tote Schmetterlinge, liege einen Nachmittag in meiner Hängematte inmitten eines dunklen, kühlen Tannenwäldchens.

Ich schliesse mich neben weiteren Moorspaziergängen und einer Autofahrt in ein kühles Tal einem Ausflug in die nahe gelegene Höhle an. Einen rutschigen Abstieg und einen deutlichen Temperatursturz später stehen wir zu zehnt in absoluter Dunkelheit irgendwo tief im Jurakalk und singen. Die Akustik ist überwältigend.

Als das Lager praktisch vorbei ist, fühle ich mich im Nichtstun angekommen. Bei der letzten morgendlichen Versammlung teile ich die Erkenntnis, dass es schön ist, einfach sein zu können und sein zu dürfen, und wieder nicken einige in der Runde.

Während der zehn Tage höre ich von einigen, dass sie, wenn sie zurück nach Hause kommen, oft in ein Loch fallen, weil ihnen das sorglose Leben im Jura fehlt. Mir passiert das nicht, im Gegenteil. Es fällt mir im Alltag leichter, abzuschalten und Sachen vorbeiziehen zu lassen. Vielleicht ist doch etwas dran an diesen Managerseminaren.

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Herzlichen Dank für deinen Kommentar. Bevor dieser veröffentlicht wird, wirft noch jemand aus der Redaktion einen Blick darauf. Das kann ein bis zwei Arbeitstage dauern.
Ups. Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte versuche es noch einmal.