2020 war ein, gelinde gesagt, intensives Jahr. Seit März sind wir nun grösstenteils zuhause, verfolgen Infektionszahlen, tragen Masken und fragen uns, wann der Spuk endlich vorbei sein wird. Dass 2020 zäh war, darüber sind wir uns wohl alle einig. Was aber hat dieses Jahr dennoch erträglich gemacht? Die Beast-Redaktion schaut wohlgesinnt auf das vergangene Jahr zurück.
Romina ist dankbar
Ich persönlich glaube, dass der schönste Moment 2020 nicht ein einzelner war, sondern das Aneinanderreihen von vielen kleinen Augenblicken. Denn wenn uns dieses Pandemie-Jahr etwas gelehrt hat, dann dass wir für jede noch so kleine Sache dankbar sein sollten. Dazu zählt beispielsweise das erste Mal wieder mit Freunden grillieren zu dürfen, eine kleine Geburtstagsparty feiern zu können oder auch einfach wieder gemeinsam zur Uni zu gehen. Es sind die kleinen Dinge im Leben, die viel mehr Beachtung verdient hätten.
Lisa hat gelesen
Hätte ich Ende 2019 gewusst, was im kommenden Jahr alles passieren würde, ich glaube, ich wäre an Silvester zuhause geblieben und hätte mich, an einem Toastbrot knabbernd, auf die bevorstehende Misere vorbereitet. Aber Ziel dieses Beitrags soll es ja nicht sein, Trübsal zu blasen, sondern wohlgesinnt zurückzublicken. Das ist zwar schwierig, aber nicht unmöglich. Ein Blick auf mein Bücherregal verrät mir, dass ich dieses Jahr vergleichsweise viel gelesen habe.
Den ersten Lockdown habe ich in München in meinem Zimmer verbracht, und da ich in der Ferne noch keine Freunde hatte, die ich zu meinen «engsten Kontaktpersonen» hätte zählen können, habe ich meine volle Aufmerksamkeit dem geschriebenen Wort gewidmet. Ich habe Bücher verschlungen, mir ein Zeitungsabo zugelegt und gelesen wie schon lange nicht mehr. Blicke ich zurück, so merke ich, dass ich in diesem Jahr das Weltgeschehen aufmerksamer beobachtet und dadurch (vielleicht als Letzte) bemerkt habe, dass wir in vielerlei Hinsicht ganz tief in der Klemme sitzen.
Bis heute frage ich mich, wie es möglich war, dass es eine globale Pandemie und der Tod unzähliger Menschen gebraucht hat, um strukturellen Rassismus auf die Titelseiten von Zeitungen und in die Köpfe der Menschen zu bringen. Auch in meinen Kopf. Lange vor sich hin schlummernde Probleme scheinen dieses Jahr an die Oberfläche getreten zu sein, und sie haben dadurch auch all jene erreicht, die es sich bisher leisten konnten, sich im Luxus suhlend wegzuschauen.
«The wrongs of our past have resurfaced, despite all we did to vanquish the traces.», in Kae Tempests Worten.
Probleme anzuerkennen ist nie leicht, aber unabdingbar, wenn man sie lösen will. Denn wenn Dinge ins Wanken kommen, besteht immerhin die Möglichkeit zur Veränderung. Deshalb, so denke ich, war 2020 zwar unangenehm, aber genau deswegen umso wichtiger.
Josefin liest Geschichten
Im Spital bin ich tagtäglich von Masken umgeben. Ja, Masken, keine Menschen, denn ohne die Mimik und das ganze Gesicht hat man gelegentlich das Gefühl einander nicht zu kennen. Stellt sich eine Nase und ein Lächeln vor, das gar nicht existiert und die Blösse, wenn man beim Mittagessen seine Hüllen fallen lässt, ist anfangs befremdlich.
Umso mehr habe ich es während dieser Zeit schätzen gelernt, wenn man einer Person ohne Maske begegnen darf, versteht, wie die Augen in den Kontext eines von Emotionen geprägtes Gesicht passen. Als würde man ein Buch aus dem Regal holen und anfangen darin zu blättern. Jede Lachfalte, jedes Zucken im Mundwinkel erzählt eine Geschichte. Wir leben in einer Welt voller wandelnder Bücher.
Und noch etwas ist schön: Wann haben wir zuletzt einander so viel in die Augen geschaut?
Danial hat sich (mal wieder) Gedanken gemacht
2020 war für mich, wie für viele anderen auch, zugleich ereignisreich und ereignisarm. Viele Menschen haben durch den Virus ihr Leben verloren und jedes dieser Einzelschicksale ist eine Lebensgeschichte, die viel zu früh beendet wurde. In einer Zeit, in der die Natur selbst nur eine Nebensache darstellt, haben wir als Menschheit schnell gemerkt, dass man den Naturgesetzen nicht trotzen kann.
Wie ein Tsunami traf uns die Pandemie. Als ich sehr früh von den Zuständen in Wuhan erfuhr, verfiel auch ich in eine anfängliche Hysterie: Panisch bin ich hin- und hergerannt und habe Leute gewarnt, dass man den Flugverkehr einschränken und Landesgrenzen schliessen müsse.
Die erste Erlösung gab es beim weltweiten Lockdown im März. Was mich zunächst beruhigte, hatte dann mit der Zeit den gegenteiligen Effekt: «Was ist mit den Selbstständigen? Menschen, die auf eine funktionierende Wirtschaft angewiesen sind?» Covid-19 zu verleugnen, ist nicht gerade die Spitze des menschlichen Denkens, genauso wenig aber eine fehlende Kritik an der Reaktion der Länder auf die Pandemie. Depressionen, Ängste und Hysterie waren die individuellen Probleme.
Zum Glück hatte auch hier der Lockdown den gegenteiligen Effekt auf mich: Statt komplett zu versauern, habe ich den Lockdown nutzen können, tief in mich zu gehen. Gefunden habe ich kein weinendes Kind in der Ecke, sondern ein Verständnis für Prozesse, die sich unserer Kontrolle entziehen. Näher zur Natur sind wir gerückt und gleichzeitig merkten wir, wie sehr wir Angst vor der Natur haben und zugleich wie sehr, wie auf diese angewiesen sind.
Das ist keine zynische Einsicht, sondern eine der Dankbarkeit. Dankbar dafür, dass es vielen noch gut geht, dankbar dafür, dass es noch hätte schlimmer sein können. Im April hatte ich das Gefühl, dass erste Mal in meinem Leben tief Luft holen zu können. Die Welt war ruhig, langsam, natürlicher.
Die Pandemie ist leider noch lange nicht vorbei. Nur mit der Hilfe tapferer Menschen konnte Leid verringert werden und das führt uns vielleicht zur einflussreichsten Erkenntnis dieser Zeit: Als Kollektiv beweisen wir, warum wir als Gesellschaft diesen Stand erreicht haben, den wir heute haben: Einen Zustand, bei dem wir eigentlich keine Angst mehr haben dürfen, dass ein wildes Tier das ganze Dorf zerfleischt. Dafür sind wir gemeinsam zu gerissen. Auch die Ängste mancher Bürger (Skeptiker) zu verharmlosen, bringt niemanden etwas. Liberalismus ist ein Gut, für das blutig gekämpft wurde, und das gilt es auch nach der Pandemie zu wahren. Hand in Hand stehen wir also da und sollten dankbar sein für das, was wir noch haben, und das was wir uns wieder erkämpfen müssen. Hand in Hand also gegen die Apokalypse.
Christoph schöpft Hoffnung
Angst, Sorgen, Verzweiflung, Wut – allesamt Worte, die an einer Bar in meinem Wohnort in Deutschland prangen. Optisch beeindruckend sind die Bretter platziert und verziert worden. Sie sprechen eine klare Sprache. Und auch wenn ich die deutsche Bundeskanzlerin nicht als Zentrum allen Übels wahrnehme und Verständnis für die Massnahmen hege, so kann ich auch die Gegenseite verstehen.
Ich erinnere mich gut an die Angst, welche mit dem Aufkeimen des neuartigen Virus aus Wuhan in der Gesellschaft einzog. Hamsterkäufe, das grossräumige Ausweichen anderer Personen in der Öffentlichkeit, ambivalente Informationen zu Todeszahlen. Das hallt noch nach.
Sorgen hatte ich mir gemacht, vor allem um nahestehende Verwandte und Freunde, aber auch um uns als Gesellschaft. Hält unser Gesundheitssystem, unser Wirtschaftssystem und unser individuelles Erleben dieser Belastung stand? Der Verzweiflung nah war ich, als klar wurde, dass erneut der Präsenzunterricht an der Universität untersagt werden würde, trotz aller Bemühungen in Form des Maskentragens, Kursteilens, Lüftens und Abstandhaltens.
Und auch von einem Gefühl der Wut konnte ich mich nicht ganz frei machen, als mir erneut untersagt wurde, meinem Sport, welcher einen so hohen Stellenwert in meinem Alltag hat, weiter nachzugehen. Dabei war meine Existenz nie tatsächlich bedroht gewesen. Meine Nebentätigkeiten unberührt von der Krise, mein persönliches Umfeld gesund, mein Tisch gedeckt.
Welches Leid muss es für jene bedeuten, welche nahestehende Personen verloren haben, ihre mühsam aufgebaute Existenz am Abgrund stehen sehen oder ihre Feiertage auf der Intensivstation verbringen? Ich kann es nicht nachempfinden, weil ich bisher verschont geblieben bin.
Und jetzt sollte ausgerechnet ich meinen Rettungsanker für das Jahr 2020 niederschreiben? Lange war mir nicht klar, welches Gegengewicht ich hier präsentieren wollen würde. Alles erschien entweder zu trivial oder zu prätentiös. Letztlich kam mir die entscheidende Eingebung an einem verregneten Dezemberabend, kurz vor der Ankündigung eines erneuten harten Lockdowns.
Mein Jahr 2020 hat ein unscheinbares Stück Linzertorte gerettet, gebacken von meiner Mutter, wie immer zur Weihnachtszeit trat es die lange Reise aus der Schweiz nach Deutschland an, um hier schliesslich von mir zu einer warmen Tasse Kaffee genossen zu werden.
Der erste Biss weckte eine wohlige Nostalgie an Zeiten, in welchen Maskentragen auf die Fasnachtssaison begrenzt war und ein Handschlag als adäquate Begrüssungsform galt. Der zweite Biss weckte ein angenehmes Bauchgefühl und das Bewusstsein für das Hier und Jetzt. Denn eigentlich, und trotz der widrigen Umstände, geht es mir gut. Sport darf ich bei einem Freund machen, er hat ein paar Geräte rumstehen, ausserdem geht meine Freundin mit mir joggen. An der Uni haben die meisten Seminare den Sprung ins Digitale gut bewältigt und ich konnte wirklich profitieren.
Der dritte Biss weckte schliesslich Hoffnung. Wer weiss, welche positiven Erkenntnisse wir aus der Widrigkeit der Pandemie ziehen können. Schon jetzt macht die Forschung enorme Sprünge, der Wert des Gesundheitssystems rückt in den Vordergrund, labile Züge unseres Wirtschaftssystems werden deutlich, Bemühungen um globale Umweltmessungen zeigen die heilende Wirksamkeit des reduzierten ökologischen Fussabdrucks für die Umwelt. So wie Asche einen Nährboden für neues Pflanzenwachstum bildet, so könnte auch die Pandemie einen Nährboden für neue gesellschaftliche Erkenntnisse bieten. Der vierte Biss fühlte sich fast schon an wie eine Impfung.
Unser Titelbild «Alles Weird Gut» ist ein Plakat von Dominik Meuter – Radar Grafik. Wir bedanken uns, dass wir es an dieser Stelle verwenden durften.