Grüsse aus den Ferien II

Ein paar Gasmasken und Bauarbeiterhelme scheinen inzwischen zum Standardinventar einer Istanbuler WG zu gehören. Dabei waren die Proteste des vergangenen Monats eine völlig neue Erfahrung für die Jugend dieser Stadt. Ich befinde mich derzeit in einem Sprachaufenthalt in Istanbul und darf Seiten der Demonstrationen erleben, die in Zeitungsartikeln nicht vermittelt werden können.

Es ist natürlich schwierig, Aussagen über einen politischen Prozess zu treffen, der noch nicht beendet ist. Was vor über einem Monat als grüne Protestbewegung gegen die Abrodung des Gezi-Parks begann, mündete in einer Massenbewegung. Schuld daran war sicherlich auch die brutale Gewalt, mit der die Polizei den Protesten begegnete. Anhänger fand die Bewegung innerhalb der 50% der türkischen Bevölkerung, die den konservativen Präsidenten Erdoğan nicht unterstützen. Es herrscht eine extrem starke Solidarität für diese Proteste. So lehnen sich jede Nacht um 21:00 in weiten Teilen Istanbuls Menschen aus dem Fenster, um zu klatschen, Töpfe zusammenzuschlagen oder sonst wie Lärm zu machen. Sie erinnern so an die Proteste. Dabei ist auch die Wut sehr gross gegen Erdoğan, der die Demonstranten öffentlich als blosse Strassengauner abtut.

Diese Wut ist gut zu verstehen. Vielen ausserhalb Istanbuls ist die Dynamik einer solchen Demonstration nicht bewusst. Die Polizei hinderte nicht nur Demonstranten daran, den Park zu betreten, sondern griff sie aktiv an und jagte sie die Strassen runter. Danach ging sie in das Cihangir-Viertel, in der viele Demonstrationssympathisanten wohnen, um dort weitere Vergeltungsschläge zu üben. Vorletzten Samstag bekam das Ganze eine noch üblere Note, als Aufnahmen  davon gemacht wurden, wie die Polizei sich von Zivilisten bei der Demonstrantenjagd unterstützen liessen, bzw. sie nicht aufhielten. Dabei rüsten diese sich selbst mit Stöcken oder in manchen Fällen gar Macheten aus, wie man in diesem Video vom vorletzten Samstag sieht:

Das Verhalten der Polizei und der Regierung  gibt den Demonstranten immer mehr Grund, Widerstand zu leisten. Dies tun sie auf eine friedliche Art. Beispielsweise werden in der Istiklal-Strasse, die zum Taksimplatz führt, während Ramadan in einer sehr langen Anreihung Protest-Iftars (Fastenbrechen) gehalten. Dabei tun sie nichts, als auf der Strasse gemeinsam zu essen und mit ihrem Zusammensein zu signalisieren, dass sie mit der Verletzung ihrer Rechte nicht einverstanden sind. Solche Iftars werden immer wieder mit Wasserwerfern aufgelöst. Inzwischen reicht es der Polizei schon, wenn zehn Leute in der Istiklal-Strasse nahe beieinander stehen, um zu intervenieren.

 

Protest-Iftar

Diese neue Form des zivilen Ungehorsams schwappt auch in andere Bereiche über. So war gerade gestern Nacht eine sehr laute Demonstration von Fussballfans in meiner Strasse, die sich neben einem Fussballstadion befindet. Sie demonstrierten dagegen, dass sie ihr Stadion mit einem anderen Team teilen sollen. Als erstes liefen sie, sehr laut Parolen schreiend, durch die Nachbarschaft. Bis drei Uhr morgens haben Einzelne weiter mit einer Trommel und Gesang für Lärm gesorgt. Das Ganze war für unsere Nachbarschaft, die sonst ziemlich ruhig ist, eher ungewöhnlich.

Gezi-Park-GrabsteineNun ist der Gezi-Park wieder eröffnet und die Bauvorhaben gestoppt. Im Park stehen Grabsteine der fünf Todesopfer der Polizei und es bleibt eine emotionale Angelegenheit für die Menschen in Istanbul. Zu wissen, dass sie ein Zeichen gesetzt haben, gibt ihnen Kraft. Es bleibt nur abzuwarten und zu sehen, wie es sich in der Türkei weiter entwickelt.

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