Hitze, Wein und prähistorische Knochen – ein Grabungsbericht aus der elsässischen Provinz

Das erste, was mir immer auffällt, wenn der Zug die Schweiz verlässt, ist das Gestrüpp, das überall an den Bahnhöfen wächst. Im Elsass ist es Sommerflieder. Es scheint mir, als ob sich das Klima an Landesgrenzen halten würde – obwohl wir gegen Norden fahren, ist es merklich heisser und trockener. Ich bin unterwegs zu einer Grabungsfläche am Südhang eines Ausläufers der Vogesen. Ein steiler, bewaldeter Hügel, hie und da sieht man den roten, brüchigen Fels zwischen den Bäumen hervorschauen. Genau dieser rote, brüchige Fels war es, der vor ungefähr 90‘000 Jahren abgebrochen war und die Lagerstätte einer Gruppe Neandertaler unter sich begraben hatte.

Den Neandertaler hat man bisher noch nicht gefunden, dafür aber allerlei Steinwerkzeuge, Abschläge, und Knochen diverser urzeitlicher Tiere. Das Ganze wurde in den Neunzigern entdeckt, als der Nachbar seinen Garten vergrössern wollte und dabei unerwartet auf Teile eines Mammuts stiess. Die Pläne für seinen Garten musste er daraufhin natürlich aufgeben. Ein kurzer Blick aus dem knapp 100 m² grossen Schnitt, in dem seit zehn Jahren gegraben wird, sagt mir jedoch, dass noch mehr ungenutzter, fein säuberlich gestutzter und gewässerter Rasen auch nicht nötig gewesen wäre.

Die erste Woche verbringe ich auf der Zone E, eine von sechs Zonen, in die die Grabungsfläche aufgeteilt ist. So lässt es sich gezielter graben. Wir befinden uns in  Schicht 4, die von grossen Steinbrocken und Kies geprägt ist. Hier findet man ausser Mikrofauna – den Resten von Mäusen und anderen kleinen Tieren – praktisch nichts. «Schneller tiefer» lautet deshalb die Devise.

Schicht 5 wird liebevoll «Mammutpizza» genannt. Als der Felsvorsprung irgendwann in nebliger Vorzeit abbrach, begrub er nämlich Unmengen an gejagten Mammuts unter sich, deren Knochen sich unter dem Druck zu einem harten, brösligen Klumpen formten.

«Bon courage», sagt der französische Student, der schon einige Jahre jeden Sommer auf dieser Grabung arbeitet, als er meine Mammutpizza begutachtet.

Es soll aber nicht meine Mammutpizza bleiben. Damit die Arbeit fair verteilt bleibt und alle Studierenden Einblick in verschiedene Aufgaben erhalten, werde ich die nächsten paar Tage mit Schlämmen (das Auswaschen der weggegrabenen Erde mit Hilfe von verschiedenen Sieben), Auslesen (das Auslesen von Knochen, Mikrofauna, Steinfragmenten aus dem, was beim Schlämmen übrig bleibt) und Waschen (das Waschen der bereits dokumentierten Funde) verbringen.

Danach wäre ich eigentlich wieder mit Graben dran, werde jedoch kurzerhand zum Tachymeter-Assistenten umfunktioniert, da es gerade Unmengen an Funden einzumessen gilt. Mit dem Tachy werden alle Funde auf wenige Millimeter genau in ein Koordinatensystem eingemessen. Meine Aufgabe ist es, das Gerät so zu bedienen, dass es die zu messende Stelle findet, während jemand anders die Messungen auslöst und am Laptop sicherstellt, dass alle Daten am richtigen Ort landen.

Die Arbeit macht Spass, auch wenn mir nach einem Tag Stehen und durch den Tachy schauen alles weh tut. Am Ende der vier Wochen werden über 600 Steinartefakte und über 1200 Knochen so eingemessen worden sein – und die allermeisten davon auch bereits gewaschen.

Das diesjährige Highlight der Grabung ist auf der Zone F ganz hinten – als der Felsvorsprung noch existierte, war dies der am besten geschützte Ort. An einem einzigen Tag werden Teile eines Wirbels sowie ein Oberarmknochen eines Wollhaarnashorns und der linke Unterarm eines Höhlenbären praktisch nebeneinander gefunden. Elle und Speiche des Höhlenbären sind sogar noch im Verband – es scheint, als wären sie, sauber gewaschen, erst wenige Tage zuvor in den roten Sand gelegt worden.

Unterarm eines Höhlenbären

Unterarm eines Höhlenbären

Nach einem weiteren Tag schlämmen werde ich auf die Zone F versetzt, wo ich noch am selben Morgen einen Mittelfussknochen eines Mammuts finde, und tags darauf einen Wolfszahn. Kein Vergleich zur letztjährigen eisenzeitlichen Grabung, an der ich teilgenommen habe – das einzige, was ich in vier Wochen fand, war ein Hufnagel. Ein neuzeitlicher. Er lag im Gras. Ich freute mich sehr darüber.

In Anbetracht des Alters und des Zustandes der Knochen, fühle ich mich ehrfürchtig und unbedeutend. Trotz der drückenden Hitze, die hinten am Hang aufgestaut unter dem Dach noch schlimmer ist als direkt unter der Sonne, arbeite ich mit Kopfhörern, höre Hörbücher, die ich auswendig kenne.

Zum ersten Mal fühlen sich all diese Tiere – Wollhaarnashörner, Mammuts, Höhlenbären, Höhlenlöwen – real an. Auch wenn ich theoretisch wusste, dass es sie mal gegeben hat, fühlt es sich nun nicht mehr an wie eine verschwommene Erzählung aus einem Märchenbuch. Abstrakte Konzepte werden so wortwörtlich begreifbar.

Am nächsten Tag wird mir gesagt, dass ich die Funde bergen soll. Ich arbeite mich Millimeter für Millimeter voran, konzentriere mich auf meinen Atem. Irgendwann wird mir der Druck, die Hitze, die Angst, die Menschen, die ständig um mich rumstehen und die Knochen fotografieren, zu viel und ich verlasse meinen Arbeitsort für einige Minuten.

Das ist kein Hufnagel, der irgendwo im Gras steckt und den niemand dokumentieren will. Das sind die Funde des Jahres, und ich habe keine Ahnung, was ich da eigentlich mache.

Ich fürchte mich davor, einen Fehler zu machen, die Knochen beim Bergen zu zerbrechen, mich falsch abzustützen, darauf zu fallen, Wasser darüber zu kippen, einen Eimer darüber zu schütten, sie fallen zu lassen, im letzten Moment zu stolpern – meine Fantasie kennt keine Grenzen.

Mit Tipps von der Grabungsleitung und erfahreneren Studierenden sowie den helfenden Händen meiner Arbeitspartnerin gelingt es mir schliesslich, die Funde vorsichtig zu lösen und auf Bretter zu legen.

Danach bin ich reif für eine Dusche, ein Glas Weisswein und den Sonnenuntergang auf der Terrasse unserer Unterkunft.

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